Stephan Felix Pauly, Organisation, Geschichte und Praxis der Gesetzesauslegung des (Königlich) Preußischen Oberverwaltungsgerichts 1875-1933. Rechtshistorische Reihe Bd. 54, Verlag Peter Lang Frankfurt a.M./Bern/New York 1987, 153 Seiten, sFr. 34,--.

Es ist Professor Hans Hattenhauer zu danken, daß er die Aufnahme dieser von Gerd Kleinheyer und Jost Pietzcker betreuten Dissertation zur Publikation in einer stark beachteten wissenschaftlichen Reihe empfehlen und verwirklichen konnte. Die Arbeit behandelt nämlich ein Thema, das bisher weder in der allgemeinen historischen noch in der verfassungsgeschichtlichen Forschung eine angemessene Berücksichtigung gefunden hat. Es lag wohl vor allem daran, daß es eben an einer monographischen Aufarbeitung des Stoffes bisher mangelte. Das ist nun durch die Studie von Pauly behoben worden.

Man kennt die Schwierigkeiten, welche seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer verfassungskonformen Organisation des individuellen Rechtsschutzes gegen hoheitliche Maßnahmen entgegenstanden. Preußen fand dank der Vorarbeiten von Rudolf von Gneist ein Verfahren, das in erster und zweiter Instanz - Kreis- und Bezirksverwaltungsgericht - den ehrenamtlichen tätigen Bürger in die Pflicht nahm, dann aber doch zur notwendigen Koordinierung von Rechtsgrundsätzen innerhalb des Staates ein mit rechtskundigen Richtern besetztes Oberverwaltungsgericht schuf, in dessen Räumen in Berlin gegenwärtig das Bundesverwaltungsgericht seines Amtes waltet.

Pauly eröffnet seine Darstellungen mit der Behandlung der Grundlagen und Probleme der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des OVG, das unter allmählicher Ausdehnung des Begriffes "streitige Verwaltungssachen" tatsächlich zum Garant für die Rechtssicherheit in weiten Bereichen des Verwaltungshandelns in Preußen wurde, obwohl der Gesetzgeber eine generalklauselartige Zuständigkeitsregelung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vermieden hatte. Trotzdem war der Katalog der Zuständigkeiten beeindruckend und gestattete dem Gericht, wichtige Grundsätze für das Verwaltungsrecht zu entwickeln. Immerhin hatte der Gesetzgeber in den §§ 127 ff. LVG die Voraussetzungen für einen umfassenden Rechtsschutz gegenüber polizeilichen Verfügungen geschaffen, soweit sie rechts- oder sachwidrig waren, was eine weite Auslegung dieser Begriffe zuließ.

Pauly hat die gedruckten Entscheidungen des OVG, aber auch unveröffentlichtes Archivgut - er hat auch unveröffentlichte Quellen aus dem Geheimen Staatsarchiv (Preußischer Kulturbesitz) in Berlin-Dahlem ausgewertet - gründlich gesichtet und analysiert und die Ergebnisse in den Kontext mit der zeitgemäßen wissenschaftlichen Lehre, vor allem aber den unterschiedlichen Auslegungstheorien der höchsten deutschen Gerichte gestellt. Überzeugend sind die vom Verfaser geschilderten Gründe für das Festhalten des Gerichtshofs an der subjektiven Auslegungsmethode. Hier zeigt sich die Wichtigkeit rechtshistorischer Forschung und Darstellung durch kundige Juristen, weil diese, wie Pauly, in der Lage sind, das juristische Element im Grundsätzlichen und Problematischen aufzubereiten und damit die Kontinuität der Rechtswahrung kenntlich zu machen. So geht diese Studie auch denjenigen an, der für rechtshistorische Betrachtungen weniger aufgeschlossen ist, weil er in dieser Arbeit ein kurzes Repetitorium über die nach wie vor maßgebenden und problembehafteten Auslegungsmethoden dargereicht erhält. Es waren beachtliche rechtsstaatliche Werte, welche Verfassung und Gerichtsbarkeit in Preußen seit dem 19. Jahrhundert für eine diesen Staat als solchen überdauernde Zukunft entwickelt haben. Jeder Leser wird Hochachtung für die Leistungen dieser "Richter in Berlin" empfinden, die mit ihrer Arbeit einen beträchtlichen Beitrag zur Fortentwicklung des Verwaltungsrechts, teilweise ohne jede Anknüpfungsmöglichkeit erbrachten. Diese Tatsache nachgewiesen zu haben, ist nicht das geringste Verdienst des Autors.

Die Rezensent wünschte dem Buch eine weite Verbreitung, weil die Lektüre belehrend und anregend wirkt und vor allem den Juristen zum Nachdenken über die principia juris anzuregen vermag.

Professor Dr. Georg-Christopf von Unruh, Kiel