Dr.
Stephan Pauly/Dr. Wienand Meilicke
Kommentierte Finanzrechtsprechung 1998, S. 129:
EStG
§ 5 Abs. 1; HGB § 249 Abs. 1 Satz 1;
MuSchG § 5 Abs. 1 Satz 1, § 14 Abs. 1 Satz 1
KFR F, 3 EStG § 5, 2/98, S. 129 (Meilicke/Pauly)
I.
Leitsatz
Für die künftige Verpflichtung des Arbeitgebers zur
Zahlung von Leistungen nach dem MuSchG kann eine Rückstellung wegen drohender
Verluste oder für ungewisse Verbindlichkeiten selbst dann nicht gebildet
werden, wenn eine Mitteilung über den Eintritt der Schwangerschaft vorliegt.
BFH, Urt. v. 2.10.1997 - IV R 82/96
Fundstelle: DStR 1998, 23
DATEV-Steuerrechtsdatenbank LEXinform LX144810
Vorinstanz: FG Münster, Urt. v. 22.8.1996 - 13 K 4763/93
F (EFG 1996, 1204)
II.
Sachverhalt
Die Klägerin ermittelte ihren Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich.
In den Streitjahren zeigten Arbeitnehmerinnen durch Vorlage einer Bescheinigung
nach § 5 MuSchG ihre Schwangerschaft an. Für die im Folgejahr zu erwartende
Verpflichtung, nach § 14 MuSchG einen Zuschuß zum Mutterschaftsgeld leisten
zu müssen, bildete die Klägerin in ihren Bilanzen Rückstellungen. Am Bilanzstichtag
stand nicht fest, daß die Arbeitnehmerinnen nach Ablauf der Schutzfrist
ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen würden. Das FA hielt die Rückstellungen
für unzulässig. FG und BFH haben die Klage abgewiesen.
III.
Analyse und Kommentierung der Entscheidung
1. Der BFH argumentiert, dem Arbeitgeber, der einen
Frau im gebärfähigen Alter beschäftige, seien die Folgelasten bekannt,
die aus den gesetzlichen Regelungen zum Mutterschutz erwachen können .
Wenn er gleichwohl ein Arbeitsverhältnis eingehe, schließe er diese Lasten
in seine Kalkulation mit ein. Offensichtlich verspreche er sich Vorteile
aus der Beschäftigung der Arbeitnehmerin, so daß er bereit sei, ggf. auch
die sozialrechtlichen Leistungen zusätzlich zum vereinbarten Arbeitslohn
zu erbringen, selbst auf die Gefahr hin, daß das Arbeitsverhältnis nach
Ablauf der Mutterschutzfrist von der Arbeitnehmerin nicht fortgesetzt
werde. Wenn sich das Schwangerschaftsrisiko konkretisiere, erhöhe sich
nur die Wahrscheinlichkeit, daß der Arbeitgeber Leistungen erbringen müsse,
deren Umfang er bei Abschluß eines Arbeitsvertrages bereits einkalkuliert
habe. Im Anschluß an den BFH-Beschl. v. 23.7.1997 (BFHE 183, 199) seien
nicht nur die Hauptleistungen aus dem Vertragsverhältnis, sondern auch
alle Nebenleistungen und sonstigen wirtschaftlichen Vorteile, die nach
den Vorstellungen der Vertragsbeteiligten eine Gegenleistung für die Hauptleistung
darstellen, miteinzubeziehen. Der BFH meint, daß bei Arbeitsverhältnissen
die Vermutung bestehe, daß Leistung und Gegenleistung ausgeglichen sind,
und ein Verpflichtungsüberhang des Arbeitgebers auch nicht durch soziale
Leistungen entsteht, zu denen der Arbeitgeber aufgrund arbeits- oder sozialrechtlicher
Vorschriften verpflichtet ist. Dazu gehörten auch Leistungen nach § 14
MuSchG.
2. Die Entscheidung vermag nicht zu überzeugen. Auf
der Grundlage des Apothekerurteils (BFH-Beschl. v. 23.7.1997, a.a.O.)
ist nur verständlich, daß der BFH vor Eintritt der Schwangerschaft trotz
Durchbrechung des arbeitsrechtlichen Grundsatzes "Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit" eine Rückstellungsbildung nach Wahrscheinlichkeitsgrundsätzen
nicht zuläßt, weil das Risiko der Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld
vom Arbeitgeber zwar nicht als Gegenleistung angesehen, aber schon bei
der Einstellung als notwendiges Übel hingenommen wird. Das gilt jedoch
nur, solange sich das Risiko der Schwangerschaft noch nicht realisiert
hat.
Der BFH hat offengelassen, wie zu entscheiden ist, wenn
am Bilanzstichtag bereits feststeht, daß die Arbeitnehmerin nach Ablauf
der Schutzfrist ihre Tätigkeit nicht wieder aufnimmt. Dieser Fall tritt
in der Praxis jedoch kaum ein, weil die Mütter ihre Rechte aus § 10 Abs.
1 MuSchG, § 19 BErzGG ausnutzen und deshalb ihr Wahlrecht zum Ausscheiden
aus dem Arbeitsverhältnis erst ausüben, wenn alle Zuschüsse zum Mutterschaftsgeld
gezahlt sind, so daß sich die Frage nach der Rückstellungsbildung nicht
mehr stellt. Richtigerweise kann es aber nicht auf den Zeitpunkt ankommen,
zu welchem feststeht, daß die Schwangere nicht zurückkehrt. Bei Einstellung
einer Frau nimmt der Arbeitgeber das Risiko der Schwangerschaft nur in
Kauf, wenn sich das Risiko nicht schon durch Eintritt der Schwangerschaft
realisiert hat. Kein Arbeitgeber stellt eine bereits schwangere Frau ein,
ebensowenig wie ein Versicherungsunternehmen ein Risiko versichert, nachdem
es bereits eingetreten ist. Ebenso wie das Versicherungsunternehmen eine
Rückstellung bilden darf, sobald der Versicherungsfall eingetreten ist,
so muß auch der Arbeitgeber eine Rückstellung bilden dürfen, sobald die
Schwangerschaft eingetreten ist.
Eine Vergleichbarkeit besteht auch zur Entgeltfortzahlung
im Krankheitsfalle. Bei Schnupfen und Grippe kann die Entgeltfortzahlung
als in Erwartung der zukünftigen Arbeitsleistung geleistet angesehen werden.
Ist der Arbeitnehmer jedoch so schwer erkrankt, daß eine adäquate Arbeitsleistung
in Zukunft nicht mehr zu erwarten ist, er vielleicht sogar sterbenskrank
ist, ist nicht einzusehen, warum die Verpflichtung aus der Entgeltfortzahlung
nicht auch zurückgestellt werden soll.
Bei einer eingetretenen Schwangerschaft ist es ähnlich:
Da der Großteil der Schwangeren nach Ende des Beschäftigungsverbotes oder
nach Ende des Erziehungsurlaubs nicht zurückkehrt, nicht nicht ernstlich
behauptet werden, der Arbeitgeber zahle den Zuschuß zum Mutterschaftsgeld
stets im Hinblick auf die Erwartung der Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Deshalb müßte zumindest eine Prüfung des konkreten Einzelfalles stattfinden,
auch wenn die Arbeitnehmerin sich unter Ausnutzung ihrer arbeitsrechtlichen
Position noch nicht festgelegt hat. Soweit nach Wahrscheinlichkeitsgrundsätzen
angenommen werden kann, daß Mütter nicht zurückkehren, muß eine Rückstellung
gebildet werden können.
3. Schließlich verkennt der BFH, daß es sich bei der
Frage, ob der Zuschuß zum Mutterschaftsgeld bei Eintritt der Schwangerschaft
als Verpflichtung für vergangene Leistungen zurückzustellen oder als Entgelt
für zukünftige Leistungen der Schwangeren zu behandeln ist, um eine Frage
der Auslegung der Europäischen Bilanzrichlinie handelt, für welche nicht
der BFH, sondern der EuGH zuständig ist. § 249 Abs. 1 HGB, den der BFH
in dem besprochenen Urteil auslegt, setzt die Artikel 20 und 42 der Bilanzrichtlinie
um. Außerdem ist Art. 31 Abs. 1 d der Bilanzrichtlinie einschlägig, wonach
Aufwendungen für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluß bezieht,
ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe dieser Aufwendungen berücksichtigt
werden müssen. Seit der Tomberger-Entscheidung des EuGH (DB 1996, 1400
mit Berichtigung in DB 1997, 1513) steht fest, daß nationale Bilanzierungsvorschriften
im Lichte des Wortlauts und der Ziele der Richtlinie auszulegen sind und
daß dafür der EuGH zuständig ist. Seit dem EuGH-Urteil v. 17.7.1997 (DB
1997, 1851 ff.) steht ferner fest, daß der EuGH auch dann zur Auslegung
zuständig ist, wenn autonomes nationales Recht auf europäisches Recht
verweist. Dieser Fall liegt hier vor, da auch der BFH anerkennt, daß §
5 Abs. 1 EStG auf den die Bilanzrichtlinie umsetzenden § 249 Abs. 1 Satz
1 HGB verweist. Der BFH hätte deshalb gar nicht selbständig entschieden,
sondern die Rechtsfrage dem EuGH vorlegen müssen.
IV.
Folgerungen für die Praxis
Das Urteil ist über den entschiedenen Einzelfall
hinaus nicht anzuwenden. Vielmehr sollten Steuerpflichtige in geeigneten
Fällen vor den Finanzgerichten die Unrichtigkeit des besprochenen BFH-Urteils
geltend machen und die Vorlage an den für die Auslegung des § 249 Abs.
1 Satz 1 HGB allein zuständigen EuGH beantragen.

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